Origami rückwärts

Entfalten: Dieser Prozess kann mindestens so großartig sein wie das vorherige Zusammenfalten. Beim klassischen Origami besteht genau darin die Kunst: Aus einem einfachen Blatt Papier etwas Neues zu erschaffen. Im Coaching und bei Origami rückwärts* geht es in die umgekehrte Richtung: Denn auch durch Entfalten kann etwas Neues entstehen.

Die manchmal versteckten, gelegentlich geheimen, teilweise unbekannten oder vielleicht auch bisher einfach noch nie ausprobierten Potenziale von Menschen zu ihrer Entfaltung zu bringen, das macht mir beim Coaching richtig Spaß. Daraus ergibt sich in meiner Arbeit die großartige Kombination aus Freude, Sinn & Wirkung. Dabei bin ich als Coach keineswegs „Der Entfalter“. (Wobei das ein cooler Name wäre – entweder als Superheld oder etwas bescheidener auf einer Visitenkarte.) Nach meinem Verständnis von Coaching liegt meine Rolle in der Unterstützung & Begleitung dieses Entfaltungsprozesses. Das eigentliche Entfalten erfolgt durch den einzelnen Menschen selbst, ganz individuell.

Derselbe Weg beim Falten bringt meist dieselben Figuren hervor

Ein elementarer Unterschied zum klassischen Origami besteht beim Entfalten auch darin, dass man vorher nicht weiß, was bei diesem Prozess herauskommt. Will ich ein Schiff falten, so probiere ich das entweder so oft aus, bis es mir gelingt, oder ich suche mir eine Bedienungsanleitung. Allerdings geht es – zumindest mir – bei Origami rückwärts ebenfalls darum, dass nicht stets dieselbe Methode eingesetzt oder jedes Mal exakt derselbe Weg beschritten wird.

Zum Einen wäre das für mich selbst langweilig und ich glaube nicht an „Patentrezepte”. Gleichzeitig würde man dabei vermutlich immer zu identischen Resultaten kommen. Und das passt nicht so gut, wenn man davon ausgeht, dass Menschen unterschiedlich sind, dass sie ganz verschiedene Potenziale besitzen, die auf ebenso individuelle Weise entfaltet & entdeckt werden können.

In einem Prozess mit einem einzelnen Menschen weiß ich als Coach vorher nie, was beim Entfalten hinterher herauskommt. Gelegentlich habe ich durch Bauchgefühl & Intuition vielleicht eine Ahnung: „Dort könnte X schlummern. Oder Y.“ (Doch es geht ja nicht um mich und meine Vorahnungen.) Manchmal haben die Klientin oder der Klient vorher eine Vermutung, vielleicht sogar einen konkreten Wunsch: „Ich möchte mich zum ABC entfalten!“ (Beispielsweise zu einem Schiff, Vogel, Superstar oder einem zufriedenen Menschen.) Allerdings hat die Erfahrung mich gelehrt: Auch wenn am Anfang ein klar definiertes Ziel genannt wird, so kann es durchaus sein, dass auf dem Weg dorthin ganz andere Erkenntnisse & Ergebnisse entstehen, wichtig und richtig werden.

Wenn man einen Elefanten falten will – und plötzlich feststellt, dass es ein Hase geworden ist

Hase statt Elefant? Beim klassischen Origami würde man sich jetzt vielleicht ärgern: „Aber ich wollte doch einen Elefanten!” Als Gruppe oder Team wiederum könnte man sich wundern: „Dabei wir haben immer gedacht, wir wären ein Elefanten-Team! Wo kommen denn jetzt die Hasen her?” Möglicherweise stellt man als Einzelperson fest: „Das ist ja spannend … ich habe Hasen-Anteile und ebenso auch Elefanten-Anteile in mir. Und noch eine Menge ganz anderer Bestandteile.” (Einen solchen zoologischen Mix aus einem einzigen Blatt Papier zu falten, ist ganz schön anspruchsvoll – gut, dass wir hier beim Ent-Falten sind!)

Auf den ersten Blick könnte Origami rückwärts total langweilig klingen: Egal, womit man anfängt: Hase, Elefant, Blume, Baum, Schiff oder etwas Anderes: Am Ende wird beim Entfalten doch immer nur ein Blatt Papier herauskommen. (Und das Papier hat sogar noch Falten.) Und wie cool ist das denn! Ein Blatt Papier, das neu gefüllt werden kann. Auf dem diese vielen Falten zu sehen sind, die für unsere ganz individuellen Erfahrungen stehen und die von uns bewusst & aktiv genutzt werden können. Gerne im Ausschlussverfahren: „Diese Erfahrung mit ABC brauche ich nicht nochmal.” Oder alternativ auch: „Durch jene Erfahrung habe ich entdeckt, dass ich X mag, dass ich Y gut kann, dass mir Z liegt. ZYX sollen also bleiben.”

Die eigenen Falten betrachten

Manchmal sehen wir nicht immer all dieses Potenzial, das dort schlummert. In uns selbst. Weil wir beim Blick in den Spiegel vielleicht nur mit einem Auge hinschauen. Oder möglicherweise etwas ins eigene Spiegelbild hineinprojizieren. Manchmal haben wir uns auch von anderen Menschen, durch Gewohnheiten oder Glaubenssätze „zusammenfalten lassen” und sind schon sehr lange als eine Figur durchs Leben gelaufen, die wir eigentlich gar nicht wirklich sind.

Dann kann es hilfreich sein, sich durch Origami rückwärts zu entfalten und sich als „leeres” Blatt (das nie wirklich leer ist) zu betrachten. Möglicherweise entdecken wir beim Entfalten nicht nur eine Vorder-, sondern zusätzlich noch eine Rückseite, auf denen es vieles zu sehen & zu erkennen gibt. Und dieses Blatt, das wir selbst sind, kann durch uns immer wieder neu gefüllt & genutzt und ebenso gerne auch anders oder ganz neu gefaltet werden.

Gleichzeitig lohnt es sich hinzuschauen, was sich in & hinter einigen dieser Falten so alles verbirgt. Ob das bisher darin schlummernde Potenzial jetzt vielleicht mehr gesehen, anders eingesetzt und vielleicht auch wertgeschätzt werden kann. Wir können ebenfalls frei entscheiden, ob wir in diesen Falten vielleicht auf- & ausräumen möchten, um dadurch weniger Ballast zu haben. Ganz am Anfang steht jedoch die Frage: Wollen wir uns selbst, unsere Möglichkeiten entfalten?

Solch ein „Entfaltungsprozess” ist keineswegs immer erforderlich. Nicht immer „easy & gemütlich”. Niemand sollte zum Entfalten gedrängt werden! Dieses Entdecken selbst enthält eine Vielzahl von Potenzialen. Man kann Dinge entdecken, die schon lange dort geschlummert haben. (Manchmal will man ja gar nicht so genau dorthin schauen.) Man kann auch manche der eigenen Möglichkeiten entdecken, die man bisher wenig oder noch nie genutzt hat. (Manchmal will man das eigene Potenzial gar nicht ausschöpfen.) Und man kann beim Entfalten vielleicht entdecken, dass man mit dem, was man hat, was man ist, schon sehr zufrieden ist.

Potenzierte Potenziale

Auch in Unternehmen geht es (mir) keineswegs darum, aus dem „Rohmaterial des Humankapitals“ immer nur dieselben „Figuren zu falten“. Es wäre ja auf Dauer recht langweilig, wenn man es mit lauter Klonen zu tun hätte. Und wie viel Potenzial für Innovation & Co. verschwendet wäre, wenn Diversität nicht erkannt, geschätzt und genutzt würde! Deswegen: Statt nach stets derselben Vorgehensweise, mit Patentrezept-Potenzialanalyse, standardisierter Persönlichkeits- bzw. Personalentwicklung dieselben Ergebnisse erzielen zu wollen, spielt Origami rückwärts virtuos und individuell mit einer Vielzahl von Möglichkeiten, um eine Vielzahl neuer Möglichkeiten zu entdecken.

Im Zusammenspiel mit mehreren Menschen – als Team oder noch etwas größer: als Organisation – ist Origami rückwärts eine grandiose Erfahrung: „Mensch, was hast Du denn gefunden, als Du Dich entfaltet hast? Und was für ein Bild ergibt sich, wenn wir unsere beiden Bilder nebeneinander legen? Potenziale im Quadrat? P hoch 2? Oder gar P hoch 3, wenn sich drei Menschen über ihre Potenziale austauschen, Gemeinsamkeiten entdecken, ihre Unterschiede erkennen und diese zu schätzen wissen?

Das Potenzial hinter all diesem Potenzial ist vermutlich nicht unendlich – doch es ist groß. Sehr groß. Und so viel davon liegt häufig im Verborgenen, weil wir uns „beim Erwachsenwerden” oftmals selbst zusammenfalten oder uns zusammenfalten lassen. Weil sich die dabei gebildeten Falten manchmal allein nur schwer wieder entfalten lassen. Weil es auch unbequem sein kann, die gewohnte feste Form zu verlassen.

Mit dem Entfalten kann man all dies erkennen. Man kann sich entscheiden, wie man dann damit umgeht: Alles kann & darf genauso bleiben, wie es war. (Die Falten können beispielsweise als Markierungen beim Zurückfalten in die alte Form dienen.) Man kann ebenso etwas Neues daraus erschaffen. Wenn man es möchte. Vielleicht faltet man auch nur einzelne Teile neu, es muss nicht immer „ganz oder gar nicht” heißen.

Fast egal, wie man damit umgehen möchte, was man beim Entfalten entdeckt & erkannt hat: Das eigene Potenzial zu kennen, die eigene Form für sich selbst zu wählen – altbekannt, ein wenig neu oder komplett anders als zuvor –, darin besteht das umfangreiche und vielfältige Potenzial von Origami rückwärts.

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*Mit Sicherheit haben Sie es längst erkannt: Origami rückwärts heißt „Imagiro”. Imago bedeutet auf Latein nicht nur „Bild”, es kann ebenso Ebenbild wie gleichermaßen Trugbild heißen. Magari wiederum steht im Italienischen für „vielleicht”, „wahrscheinlich” und außerdem „schön wär’s”. Imagine kennt man vielleicht: „Annehmen” oder „sich vorstellen” heißt es im Englischen. Eine spannende Kombination. Ob diejenigen, die sich vor vielen Jahren in Japan den Begriff Origami (von oru für „falten“ und kami für „Papier“) ausgedacht haben, auch daran gedacht hatten?

Potenzial – einige interessante Definitionen:

  • die Fähigkeit eines Menschen etwas zu leisten

  • ein Skalarfeld im Zusammenhang mit konservativen Kräften

  • eine mit einer Zustandsvariable verbundene thermodynamische Größe, die die Richtung einer chemischen Reaktion bestimmt

  • die Produktion, die bei Vollauslastung aller Produktionsfaktoren möglich wäre

  • eine elektrische Größe an der Membran lebender Zellen

  • ein Vektorfeld, dessen Rotation ein Vektorfeld liefert

  • eine Funktion auf den Knoten eines Graphen

  • eine Funktion auf der Menge aller Strategien eines Spiels

  • Gesamtheit aller vorhandenen, verfügbaren Mittel, Möglichkeiten, Fähigkeiten, Energien

Origami rückwärts – begleitet durch Coaching:

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