Richtig enttäuscht? Super.
Gleich vorweg: Ich mag Enttäuschungen. Aber mal so richtig. Wieso? Dazu gleich mehr. Ich mag auch die deutsche Sprache wirklich sehr. Weil sie so wunderbar präzise sein kann. Wenn man sie aufmerksam benutzt und beobachtet.
Enttäuscht. Was heißt das eigentlich? Es bedeutet, dass man nicht mehr einer Täuschung erlegen ist. Dass man den Schleier weggezogen hat und sieht, wie es wirklich ist.
Enttäuscht. Wir verwenden dieses Wort oftmals – fast? fast immer? – synonym mit traurig, frustriert und geknickt. Vielleicht ist man auch verärgert, weil … ja, warum eigentlich? Weil die Täuschung nicht mehr vorhanden ist. Weil wir sehen, wie es wirklich ist.
„Desillusioniert“ ist eine andere Übersetzung desselben Zustands. Wenn man also nicht mehr länger einer Illusion erliegt. Vielleicht fühlt man sich auch ernüchtert. Wie schön. Bravo. Denn was war man vorher?
Nach hinten oder vorne?
Worin besteht dann dieser Unmut, den man nach einer solchen Ent-Täuschung empfindet? Er ist rückwärts gerichtet und blickt auf die Vergangenheit, weil wir bis eben einer Fehlvorstellung, einer Illusion aufgesessen waren. Weil uns jemand getäuscht hat? Weil wir uns haben täuschen lassen? Weil wir uns womöglich und vermutlich selbst getäuscht haben. In genau diesem Moment ist das sicher nicht immer schön. Erkennen und Klarsehen sind nicht „per Knopfdruck“ sofort toll und wunderbar.
So ist es. Und das wird uns ganz sicher immer wieder passieren. Auch morgen und übermorgen. Im Hier und Jetzt ist das Gefühl der Enttäuschung als Verlust präsent. Vor allem, wenn wir dabei rückwärts schauen. Als Nachhall vom Gestern. Traurig, ärgerlich, vielleicht wütend oder zornig. Weil wir getäuscht wurden. Vielleicht von uns selbst. Sehr wahrscheinlich sogar vor allem von uns selbst.
Genau jetzt: Vorhang beiseite
Und morgen oder gleich? Dann sind wir befreit von dieser Täuschung. Genau dafür können wir dankbar sein. Wenn wir wollen. Und wenn wir wirklich wollen, können wir uns genau in diesem Moment, wenn wir uns der Ent-Täuschung bewusst werden, von Herzen freuen. Können Frust, Trauer, Ärger empfinden, wahrnehmen und auch loslassen. Wenn wir wollen. Weil der Trugschluss vorbei ist. Weil wir – wieder? endlich? – klar sehen und ohne Schleier nach vorne blicken können. Weil wir aus dem früheren, vergangenen Getäuschtsein lernen können.
Wollten wir etwas anders sehen, als es war? Als es wahr war? Wollten wir uns täuschen lassen, weil es, weil die Welt, weil irgendetwas damit schöner aussah? Einfacher? Besser? Bequemer? Doch jetzt, da sehen wir klar.
„Ich bin enttäuscht.“ Das können wir genauso lesen, verstehen und fühlen wie „ich bin befreit“ und „ich sehe wieder klar“. Befreit, bereit. Wenn wir es wollen.
Das Licht anschalten
Kann man eigentlich von jemand anderem enttäuscht sein? Nun, wenn man es wirklich will, dann darf man sich das einreden. Es sich vormachen. Sich damit selbst täuschen.
Denn so richtig täuschen können wir uns nur selbst. Weil wir uns etwas vorstellen, wünschen, einreden. Haben möchten, sehen möchten. Dass dieser andere Mensch etwas tut oder ist, das wir gerne hätten. Wenn er oder sie uns dann „enttäuscht“, dann hilft er oder sie uns zu erkennen, was wir vorher anders sehen oder haben wollten. Wenn wir dann aufgrund dieser Enttäuschung böse auf jemanden sein wollen … dann bitte nur auf uns selbst. Weil wir uns selbst hinters Licht geführt haben. Nicht in das Licht, in dem wir klar gesehen hätten, sondern eben genau dahinter. Wo es dunkler ist und unsere Fantasie, unser Wunschdenken besser walten konnte. Doch dann wurde der Lichtschalter betätigt. Und schon war die Enttäuschung groß.
Es ist unsere Entscheidung
Natürlich obliegt es unserer freien Entscheidung, ob wir mit dem früheren Zustand der Täuschung hadern wollen. Wir können uns voll und ganz in dieses Gefühl des (vergangenen) Irrtums hineinfallen lassen. Wir können niedergeschlagen, leidvoll, schwermütig, resigniert, freudlos, entmutigt, trübselig, wehleidig, verzagt, todunglücklich, verbittert, kummervoll, verdrossen, missgelaunt sein, uns betrogen fühlen und den Kopf hängen lassen.
„Was war ich doch dumm! Wie habe ich mich nur so hinters Licht führen lassen!“ (Oder selbst geführt.) Das ist okay. Wenn wir es wollen. Wenn wir in der Vergangenheit leben und dort bleiben wollen. Ebenso kann es unsere Entscheidung im Moment des Erkennens sein, dass wir uns freuen, dass wir dankbar sind. Und nach vorne schauen.
Enttäuschung? Vorhang beiseite und den Blick auf das gerichtet, was wirklich ist? Finde ich super.