Sind wir? Sind wir.

 

Was um Himmelswillen sind wir? Was zur Hölle sind wir? „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Hat Jean-Paul Sartre geschrieben und behauptet.

 
Foto: M. Zastrow (Danke!)

Foto: M. Zastrow

Doch: Himmel oder Hölle? Das können wir beides sein, ganz allein und für uns selbst. Je nachdem, wie wir uns entscheiden und verhalten. Jeden Tag aufs Neue.

„Are we human doings or human beings?“ Hat Jon Kabat-Zinn gesagt und gefragt. Und wieder: Auch diese Frage können wir uns tagtäglich stellen – und selbst beantworten. Wenn wir wollen.

In einer Vorlesung für junge Menschen kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben hat mich erst kürzlich ein Feedback förmlich umgehauen – im Guten wie Erschrockenen. „Es ist das erste Mal in all den Vorlesungen, dass ein Dozent uns sagt, uns erlaubt, dass wir darauf achten und erkennen, was uns zufrieden macht. Dass es nicht heißt, alles muss immer mega erfolgreich, total innovativ sein und die gesamte Welt verändern. Dass es einfach nur um unsere Zufriedenheit geht.“

Ein klein wenig davon wollte ich in den zwei Seminarwochen erreichen, hatte es zumindest gehofft. Dass es schon am zweiten Tag soweit war – wow. Mindestens innerlich habe ich in diesem Moment ziemlich feuchte Augen gehabt. Ein lachendes und leider ebenfalls ein weinend-erschrockenes. Weil es fast überall um Leistung, äußeren Erfolg oder immer öfter auch um etwas geht, das ich „Purpose Pressure“ nenne. Maschinen oder Menschen: Was sind wir?

Beim Coaching geht es durchaus manchmal um Erfolg, Leistung und auch Innovation. Doch wenn dabei jegliche Freiwilligkeit und Zufriedenheit fehlen, wenn Freude und Spaß nicht einmal mehr mit der Lupe zu erkennen sind, wenn das Herz auf stumm gestellt ist, wenn ausschließlich Kennzahlen, Effektivität und Effizienz im Vordergrund unserer Existenz stehen, wenn unbedingte Sinnhaftigkeit von außen zum Druckfaktor mutiert, dann bin ich selbst dort nicht der Richtige. Dann ist eher ein Mechaniker oder Manipulator (w/m/d) gefragt. 

Wenn es allerdings darum geht, dass all diese Effekte das Resultat von Aufgaben sind, die von zufriedenen Menschen mit Freude ausgeführt werden – dann bin ich sehr gerne als Begleiter, Sparringspartner, „Entwicklungshelfer“ und Katalysator zur Stelle. Genau deswegen hatte ich viele entsprechende Fragen in die oben genannte Vorlesung eingebaut. Was kann innere Zufriedenheit durch eine selbst gewählte, frei und mit echtem Herzblut ausgeführte, wirklich erfüllende Tätigkeit bedeuten? Wie könnte sich das anfühlen? Und darf das überhaupt so sein? Darf ich so sein? Erlaube ich mir selbst, zufrieden zu sein? Über all dies haben wir gesprochen. Damit diese jungen Erwachsenen nicht erst einige Jahre später zur Therapeutin oder zum Coach rennen müssen, um (wieder) zu lernen, was sie denn „eigentlich“ glücklich macht, um sich zu erinnern, was „von Herzen gern“ oder „zufrieden“ vielleicht bedeuten könnten.

Natürlich dürfen sie das herzlich gerne tun, doch aus geschäftsschädigendem Eigeninteresse habe ich ganz und gar nichts dagegen, wenn sie als zufriedene Menschen durch die Welt wandern – und nicht stattdessen als Klienten zu mir kommen (müssen). Zufrieden? Im Frieden und Einklang mit sich selbst? Wenn das noch sehr viel mehr Leute sein würden, wäre ich von Herzen gern bereit, meinen Job an den Nagel zu hängen.

Bitte nicht missverstehen: Ich mag meine Arbeit sehr! Doch zumindest den Part des Coachings gebe ich gerne auf, wenn & sobald weit & breit einige Dinge zum Alltag gehören. Echte Zufriedenheit, mit sich selbst, den eigenen Eigenheiten und Eigenschaften und gleichermaßen im Zusammenspiel mit der Welt um sich herum. Ehrliches, authentisches und damit stimmiges Sich-Selbst-Bewusst-Sein in Kombination mit Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit. Eine wahrlich gesunde Mischung aus echter Akzeptanz und gleichzeitiger Bereitschaft und Fähigkeit zur (eigenen) Veränderung. Und vielleicht noch ein, zwei Dinge mehr.

Doing or being? Effektive Arbeitsmaschine oder ein lebender, lebendiger, das wahre Leben annehmender, akzeptierender, auskostender, bewusst und selbst und frei gestaltender Mensch? So, wie Mr. Kabat-Zinn es gemeint hat, ist die Entscheidung hoffentlich sehr leicht. Die Umsetzung ist es nicht. Nicht immer. Und manchmal schon.

Richtig ist nicht immer „schön“. Erst recht nicht immer lustig, leicht und locker. Hölle oder Himmel? Doing or being? Keineswegs ist dies eine Entscheidung, die man einmal trifft – und sich danach auf ewig ausruht.

Wir können uns jeden Tag neu und frei entscheiden, ob wir den Ärger von gestern mit uns herumtragen wollen. Ob wir uns Sorgen vor dem Morgen machen und von ihnen auffressen lassen wollen. Ob wir uns selbst, dieses Leben, unser Leben selbstbestimmt und selbstwirksam in die eigenen Hände nehmen, wie viel Ballast, welches seelische und emotionale Gepäck wir dabei (er-)tragen wollen. Ob wir frei von den Rollen als Opfer, Täter oder Retter sein und leben wollen. Auf welche Dinge wir unsere Energie konzentrieren. Auf diejenigen, die uns selbst gut tun? Oder auf solche, die uns Kraft rauben, unseren Akku leeren? Himmel oder Hölle? Es ist unsere Entscheidung. Nicht erst irgendwann, eines Tages oben an der Himmelspforte oder vielleicht auch etwas weiter unten. Hier und jetzt. Nicht woanders, nicht gestern oder morgen, jetzt. Nicht im Land des Konjunktivs, nicht Wäre, Falls oder Vielleicht. Genau jetzt. Und exakt hier.

Sind wir dazu in der Lage? Sind wir. Vielleicht nicht immer gleich sofort. Manches braucht Übung. Manches braucht auch Zeit. Manches will zuerst gelernt oder losgelassen werden, bevor man befreit loslaufen kann. Manches möchte zunächst noch ins Reisegepäck des eigenen Lebenswegs aufgenommen werden, bevor man die Wanderung beginnt.

Aber die Anderen? Die können wir definitiv nicht verändern. Sind wir die Anderen? Sind wir nicht. Zufriedenheit irgendwo im Außen suchen? Viel Erfolg! Doch wirklich einstellen und sich richtig anfühlen wird er sich nur dann, wenn wir dabei auf uns selbst schauen. Gerne auch mit kritischem Blick, sofern er Entwicklung, Wachstum und positiver Veränderung dient, doch bitte ebenso mit Wohlwollen und Dankbarkeit auch für sich selbst.

Lieber Monsieur Sartre, es schmerzt mich durchaus (ein klein wenig), jedoch muss ich Ihnen widersprechen. Die Anderen mögen vielleicht höllisch anders sein – doch sowohl die Hölle als alternativ auch der Himmel: Das sind wir selbst.