Ich – und Du? Wie viel Druck ist wohl gesund?

Die Fußball-EM ist jetzt vorbei. Italien hat gewonnen, England verloren. (Vielleicht hat auch England ein bisschen gewonnen? Irgendwann einmal im Rückspiegel?) Deutschland hat definitiv verloren. Das ist ja klar. Im Achtelfinale ausgeschieden! Vielleicht lässt sich jedoch aus einer Niederlage lernen – und gewinnen? Vielleicht auch für das Erzeugen von Druck und den Umgang damit?

Ehemalig

Basler, Effenberg, Lahm & Co. – so viele Experten beglücken uns nun allerorts mit ihrem „Ich hab’s doch schon immer gewusst“. (Interessanterweise scheint es bei 83 Mio. Bundestrainer:innen fast nur männliche Exemplare zu geben, die bereits weit vorher wussten, wie es hätte sein sollen.) An zwei ehemaligen Torhütern würde ich (ich-ich-ich) zunächst gerne einen bestimmten Teilaspekt des Erfolgssports betrachten. Einer davon ist ganz frisch als CEO des FCB angetreten, der andere ist in jeglicher Hinsicht „ehemalig“.

Bei Oliver Kahn sind es die beiden dargestellten Buchtitel, die mir bemerkenswert erscheinen: Sowohl „Ich“ als auch „Du“ sind dort zu lesen. Beim zweiten bin ich mir nicht ganz sicher, ob und wie sehr das „Du“ die Abkürzung ist für „… wenn Du es genau so machst wie ich“. „Weiter, immer weiter!“ Bis dass der Erfolg sich (bei Dir, wie schon bei mir) endlich einstellt.

Mit Blick auf Robert Enke sieht es vielleicht ein wenig anders aus. Womöglich würde man ihn heute noch erleben, würde er heute noch leben, wenn es statt „Weiter!“ ein deutliches „Stopp! Ab jetzt sofort anders.“ gegeben hätte.

Das darf jetzt genau so gerne mal kurz stehenbleiben und zum Nachdenken anregen. Ein paar weitere Gedanken gibt es hier im Blog.

Give a little Love?

Es ist längst nicht nur Robert Enke, der für diesen Druck steht, der manchmal viel zu viel wird. Auch ein Sebastian Deisler (vielleicht erinnert sich noch jemand an ihn), der ein Riesentalent war, hat diesem „nicht standgehalten“. In der NBA haben Kevin Love (ja, der heißt wirklich so) und Demar DeRozan vor einiger Zeit das Thema „Druck und Depression“ zumindest vorübergehend auf die Agenda gebracht.

„Der soll sich mal nicht so haben! Schließlich bekommt er Millionen dafür. Da muss man sowas aushalten können.“ So ähnlich waren auch die Reaktionen, als Per Mertesacker darüber sprach, wie ständiger Druck ihm nicht nur körperliche Probleme bereitete, sondern auch den Spaß am Spiel vermieste. Ziemlich blöd wird es vor allem dann, wenn dieses Vermiesen sich auch auf den Rest des Lebens ausweitet.

… und hier fange ich an, ambivalent zu werden.

Diamanten und Deadlines

„Don’t crack under pressure!“ und all die klugen Worte von Diamanten, von Kohlenstoff, der erst durch den Druck aus der Umgebung zu genau solchen Edelsteinen reift? Ja, definitiv. Druck gehört dazu. Und er kann auch viel Gutes hervorbringen. Wenn man mit ihm umzugehen weiß. Und das gehört als Profi auch dazu. (Bitte beachten: „damit umgehen” ist etwas anderes als „ihn aushalten”.)

Bei mir selbst hat es nie zum Profisportler gereicht. Doch darf ich behaupten, dass ich ein paar Dinge bisher im Sport & Leben erreicht habe. (Wobei dieser Nobelpreis noch immer nicht auf der Checkliste steht, verdammt.) Basketball und Karate in jungen Jahren, später im deutlich höheren Alter unter anderem ein intensives Triathlon-Jahr: Ich konnte immer hart zu mir selbst sein, habe die Kotzgrenze nicht nur im übertragenen Sinne mehrmals überschritten.

Im Beruflichen war das nicht immer so ersichtlich – ehrlich: geschwitzt und gekotzt habe ich dabei weniger, zumindest nicht äußerlich. „Deadlines“ – ein bemerkenswertes Wort – in Projekten? Die haben mich meist motiviert, wenn Kolleginnen und Kollegen unter diesem Druck mindestens mental ordentlich geschwitzt hatten und in die Knie gegangen waren. Nächte durchackern? Na klar! 

Selbstmotivation? Schon früh gelernt. Ich war immer sehr gut darin, mich selbst zu pushen. Geht nicht? Quatsch. Augen zu, Gesäßhälften zusammen, alles andere ausblenden, dann geht es voran. Ich war auch immer „sehr gut“ darin, Schmerzen auszuhalten oder sie zu ignorieren. Doch es brauchte gleich mehrere Wände, gegen die ich gerannt bin, die ich mir vermutlich weitestgehend selbst dorthin gestellt hatte, um zu verstehen, dass „Weiter, weiter!“ und „Keine Schmerzen!“ nicht das einzige sind, was zählt.

Es braucht definitiv eine gehörige Portion „Ignoranz sich selbst gegenüber“, wenn man richtig erfolgreich sein will. Als Sportler (w/m/d) und auch anderswo. Ob dieser Preis, den man dabei zahlt, durch denjenigen gerechtfertigt wird, den man am Ende als Pokal in den Händen hält? Fragen wir Oliver Kahn. Fragen wir Robert Enke, wenn wir es könnten.

Niemand zwingt ihn

An ihn muss man wohl regelmäßig erinnern, wenn sowohl Experten (:innen lasse ich hier bewusst außen vor, lasse mich „gerne eines Besseren“ belehren, falls dies tatsächlich eine ebenso typisch weibliche Eigenschaft ist) als vor allem Fans – die ja immerhin in den jeweiligen Sportler „investieren“, ihm sein luxuriöses Leben finanzieren – nach verlorenen Spielen und miesen Leistungen den Charakter eines Menschen in Frage stellen. Geht mir auch oft so. „Was für eine Pfeife! Der soll sich mal zusammenreißen! Druck? Pah! Das gehört schließlich zu seinem Job!“ Englische Fußballfans wissen vielleicht, wer von den im wahrsten Sinne jüngsten Elfmeterschützen gemeint ist.

„Per ist Millionär. Keiner zwingt ihn dazu, Fußball zu spielen”. So reagierte Ex-Profi Giovane Elber auf das Interview und die Aussagen von Per Mertesacker. Nun ja, es ist auch niemand dazu gezwungen, zu leben. So könnte man jetzt zynisch argumentieren. (Natürlich darf man sich im selben Atemzug über die Gehälter unterhalten, die in manchen Bereichen des Profisports gezahlt werden. Ebenso wie über die Ansprüche, die daraus erwachsen.)

„Spiel” – es trifft wohl nicht nur in solch extremen Situationen auf geringe Gegenliebe und Verständnis, wenn man auf genau diesen Aspekt hinweist. Dass auch Spaß ein wichtiger Motivations- und damit Erfolgsfaktor sein kann? Das überspringen wir hier einfach mal.

Nee, Herr Nietzsche.

„Was einen nicht umbringt, das macht einen nur härter.” Hat Nietzsche gesagt, der Philosoph. Früher fand ich das richtig gut als Leitsatz. Irgendwann, im etwas fortgeschrittenen Alter und auch halbwegs befreit von sportlichem Ehrgeiz, habe ich angefangen, diesen Satz ganz schrecklich zu finden. (Ehrlich gesagt würde ich Nietzsche auch gerne fragen, ob er ein zufriedener Mensch war.)

Dass es keineswegs immer klug oder gesund ist, Schmerzen aushalten zu können? Da hat es die oben bereits genannten Wände und die mitunter heftige Kollision mit ihnen „gebraucht“, bis ich verstanden hatte, dass ich selbst als Steinbock nicht gegen und durch jeder Mauer rennen kann.

Diese Kollisionen sind keinesfalls immer „nur” körperlicher Natur gewesen. Sowas lässt sich vielleicht noch besser behandeln und auch von außen erkennen. Wenn man ein gebrochenes Bein oder einen ausgerenkten Arm hat? Klar, dann wird jeder Fan, jeder Experte, jeder Kollege und wohl (fast) jeder „Chef” verstehen, dass eine Pause angebracht wäre. Doch wenn die Beeinträchtigung innerlich ist? In einer Form, von der die Herren Deisler, Mertesacker und Love ein Lied singen können, Herr Enke es nicht mehr kann?

Do or die?

Jeglichen Druck vermeiden? Das ist ganz sicher keine Strategie – weder im Sport, noch insgesamt im Leben. Jeglichen Druck aushalten? Hmm … Es kann vielleicht ganz großartig sein und zu sehr viel Erfolg führen, wenn man das kann. Um welchen Preis? Das ist sie wohl, die Preisfrage.

Doch die hat leider kaum einen Platz in den Köpfen von Experten oder Fans. Ob beide diese jeweilige Bezeichnung verdienen? Ob den vielen Ehemaligen, die sich auf jedes Mikrofon stürzen, das ihnen hingehalten wird, auch etwas wie emotionale Intelligenz zur Verfügung steht? Ob es den Fans (auch) um die Spieler geht – oder nur um das Ergebnis, um Erfolg um jeden Preis?

Ich bin mir nicht sicher, ob man solche Ansprüche an diese beiden Gruppen stellen darf. Oder stellen sollte. An einen Menschen, der diese Bezeichnung verdient, würde ich diesen Anspruch gerne stellen.

Nur im Sport?

Wenn all diese oben beschriebenen Phänomene, Verhaltensweisen und Reaktionen ausschließlich im Sport auftreten würden, dann könnte man sich hinstellen und sagen: Darf sich jeder Mensch frei aussuchen, ob er oder sie diesen Weg gehen will.

Doch ist all das wirklich nur auf Spielfeldern, in Hallen, auf Freiplätzen und (sportlichen) Laufbahnen zu beobachten? An dieser Stelle ist die Frage sehr rhetorisch – meine eigene Antwort heißt „nein”.

Und ich bleibe dabei: Ohne Druck kommen viele wichtige Ergebnisse nicht zustande. Wenn man sich dabei nicht wohl fühlt? Weg mit dem Druck? Es geht mir keinesfalls darum, dass dann sofort eine Vermeidungsstrategie eingeschlagen wird. Doch müssen wir uns auf den Leitsatz von Friedrich Nietzsche stützen, der selbst nur 55 Jahre alt wurde? (In meinen Zwanzigern war ich überzeugt, dass ich dieses biblische Alter niemals erreichen würde, heute bin ich durchaus scharf darauf, es deutlich zu überschreiten.)

Der Körper ist die einzige Chance für die Seele, auf sich aufmerksam zu machen.
— Per Mertesacker in "Weltmeister ohne Talent"

„Hart” sein, so wie es Nietzsche formuliert hat: Ist das durchgängig erstrebenswert? Vielmehr halte ich es für eine sehr gefährliche Nebenwirkung. Denn wenn man es in einem Lebensbereich kann, in dem es durchaus hilfreich ist, dann überträgt sich diese Härte häufig auch auf den Rest von unserem Leben. (So ist es auch kein Wunder, dass neben Depressionen und Burn-outs mittlerweile auch Achtsamkeitsseminare und MBSR-Trainings boomen.)

Umso wichtiger erscheint es mir immer wieder, dass wir ebenso auf sportlichen Betätigungsfeldern wie vor allem in beruflichen Situationen – endlich! wieder! – lernen, unseren Emotionen Raum zu geben. Das gilt vor allem für solche gesellschaftlich noch immer nicht wirklich akzeptierten Dinge wie Ängste oder andere (vermeintliche) Schwächen.

  • Dazu kann es im allerersten Schritt helfen, diese Emotionen überhaupt erstmal in sich selbst wahrzunehmen, sie zuzulassen, sie zu akzeptieren. Denn bei sehr (zu) hohem Druck gelingt uns dies oftmals nicht. Häufig sind wir – uns selbst gegenüber – schon im Nietzschen Sinne hart und ignorant geworden. Oft „braucht” es dann erst ein heftiges Signal unsere Körpers (siehe Mertesacker), um uns daran zu erinnern, dass wir menschlich sind.

  • Sich dann „zu outen” (fiese Formulierung), sich anderen anzuvertrauen – ob angesichts eines hohen Gehaltsschecks „gerechtfertigt” oder nicht – ist dann die zweite Hürde. Und gleichzeitig der entscheidende Schritt, um anders zu enden, besser damit umzugehen als Robert Enke.

Als Experten, als Fans, als Kolleginnen und Kollegen, als Freundinnen, Freunde und Familie kann es unsere Aufgabe sein, diese ersten Hürden möglichst gering zu halten, sie abzubauen. Und nicht, sie durch unbedachte Reaktionen und Kommentare weiter aufrecht zu erhalten oder gar höher zu setzen.

Selbst dann, wenn es um Fußball geht.

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https://robert-enke-stiftung.de