Weniger Wahrheit, mehr Verständnis?
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Stiere, Stühle, Elefanten und Orangen: Einige Gedanken zur Wahrheit
"Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen."
Dieses Zitat stammt von Pablo Picasso. In einem Video kann man sehen, wie Picasso mit nur wenigen Pinselstrichen einen Stier skizziert [1]. Schon nach wenigen Sekunden erkennen wir sofort einen Stier. Aber würden wir alle haargenau denselben Stier malen?
Selbst bei etwas vermeintlich Simplem wie einem Stuhl werden wir alle etwas Unterschiedliches vor dem inneren Auge haben. Mit oder ohne Armlehne? Aus Holz oder aus Metall? Praktisch zum Stapeln oder richtig bequem? Welche Farbe hat das Polster und gibt es überhaupt ein Polster?
Auch wenn wir mit unserer Sprache zu sehr präzisen Beschreibungen in der Lage sind: Unsere Wahrnehmung ist nicht genormt, sie ist hochgradig individuell. Die nachfolgende Geschichte verdeutlicht es:
DIE FÜNF WEISEN UND DER ELEFANT
Fünf blinde Gelehrte werden von ihrem König ausgeschickt, um herauszufinden, was ein Elefant ist. In Indien werden sie fündig und machen sich durch Ertasten ein Bild. Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel des Elefanten betastet. Er sprach: "Ein Elefant ist wie ein langer Arm." Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: "Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer." Der dritte Gelehrte sprach: "Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule." Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der vierte Weise sagte: "Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende", denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet. Und der fünfte Weise berichtete seinem König: " Also ich sage, ein Elefant ist wie ein riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf." Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt.
Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte weise: "Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist."
Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte und sie sich zu schnell damit zufriedengegeben hatten [2].
ORANGE, ORANGE ODER ORANGE? ODER VIELLEICHT GELB?
Die Geschichte vom Elefanten zeigt sehr plakativ: Wahrheit ist relativ. Sie hängt vom jeweiligen Kontext und der eigenen Wahrnehmung ab. Und wenn wir uns über sie unterhalten möchten, hängt sie allein schon von der Sprache ab, die oft nicht ganz eindeutig ist – oder verwendet wird. Was beispielsweise „orangefarben“ ist, wird häufig sehr unterschiedlich definiert. Gleichzeitig gibt es Sprachen, in denen manch eine Farbe gar nicht definiert ist. Und können wir sicher sein, dass wir dieselbe Sprache sprechen?
In einem Kreativprozess mit einer Designagentur sollte ich mir kürzlich einen Orangeton als Akzentfarbe aussuchen. Schnell den Browser geöffnet, schon hatte ich eine normierte RAL-Farbskala vor mir. Die Bandbreite der Farben mit dem Namen „Orange“ war faszinierend. Doch noch beeindruckter bin ich bei deren engem Verwandten, dem Gelb, gewesen. „Das ist doch Ocker! Und das da? Niemals Gelb, das ist eindeutig Oliv.“ Und so ging es munter weiter. Wäre ich in diesem Moment nicht so farblich-emotional involviert gewesen, hätte ich mir beim Staunen und vor allem Lamentieren und Argumentieren zuschauen können. Und dabei ging es lediglich um eine Farbe. Selbst wenn etwas „normiert“ ist, so kann man sich sehr sicher sein, dass zwei Menschen darunter nicht immer dasselbe verstehen.
Woher auch? Wer bringt einem Kind bei, wann ein Gelb nicht mehr Gelb, sondern Orange heißt? Und wann dies dann wiederum längst – gemäß normierter Farbskala – ins Rot übergegangen ist? Wem ist klar, dass in einer bestimmten Wellenlänge reflektiertes Licht bei allen Menschen in derselben Art auf deren Netzhaut trifft? Und wer sagt als Erste/r, wie eine Farbe überhaupt heißt? Wann hat sich der erste Neandertaler eine Wiese angesehen und freudig „Grün!“ gerufen?
In den Werken von Homer findet man beispielsweise nirgends einen Verweis auf die Farbe Blau. Meer oder Himmel sind damals noch dunkel oder hell. Auch im Alten Testament findet Blau nicht statt. Seine Bedeutung als „heilige Farbe“ erhält es deutlich später – und wird auch erst mit einigem zeitlichen Versatz in biblischen Texten verwendet.
Darüber hinaus bieten unterschiedliche Sprachsysteme eine Vielzahl von „Wahrheitsvarianzen“. Allein schon nonverbale Aspekte können für viel Verwirrung sorgen, wenn beispielsweise ein Nicken plötzlich „nein“ bedeutet und ein Kopfschütteln für Zustimmung steht. Andere Länder, andere Sitten – das sagen wir zwar häufig, aber die wahre Bedeutung vergessen wir gerne immer wieder.
Für eine umfangreiche Analyse kann ich das Buch „Im Spiegel der Sprache“ von Guy Deutscher hierzu sehr empfehlen. Für Science Fiction-Fans liefert der Film „Arrival“ von 2016 ein faszinierende Geschichte [3], die wiederum auf der Kurzgeschichte "Story of Your Life" (1998) von Ted Chiang beruht. Plötzlich spielt Zeit eine ganz andere Rolle, wenn man aufgrund eines komplett anderen Verständnisses von Sprache auch eine gänzlich unterschiedliche Wahrnehmung der Realität hat.
Oder ist es andersherum gefragt: Nimmt man die Welt anders wahr, drückt sich dies dann auch in einer vollständig anderen Art der Kommunikation aus?
ACHT KÖSTLICHKEITEN
In der Philosophie kann man mindestens acht verschiedene Grundsatztheorien finden, was Wahrheit denn sei und wie sie sich betrachten und ermessen lässt. Acht, wow. Welche davon stimmt nun? Oder sind vielleicht alle wahr? Darauf gestoßen bin ich unter anderem bei Wikipedia. „Das ist doch nun wirklich überhaupt keine auch nur ansatzweise verlässliche Quelle!“, höre ich jetzt nicht nur Menschen aus der Wissenschaft empört rufen. Doch welche Rolle spielt hierbei und in anderen Betrachtungen der Wahrheit die Weisheit der Vielen, die Schwarmintelligenz? Ist etwas wahr, sobald möglichst viele Menschen davon überzeugt sind? In Zeiten von Fake-News ist dies womöglich nicht nur eine rein akademisch-philosophische Frage.
Eben waren wir schon kurz bei Homer gelandet. Natürlich gab es auch noch andere Zeitgenossen im alten Griechenland, die sich über die Wahrheit den Kopf zerbrochen haben. Ob man das nachfolgende Zitat von Aristoteles als wahr empfindet (oder überhaupt versteht), bleibt jedem selbst überlassen: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen.“
Etwas kürzer übersetzen könnte man dies vielleicht mit „Wenn’s wahr ist, ist’s wahr. Und wenn nicht, dann nicht.“ Aber herrje, wann ist etwas denn? Und wann ist es nicht?
Gerade gestern hatten wir in Berlin den ersten echten Frühlingstag. Achtzehn Grad! Selbst hier in der Hauptstadt liefen plötzlich erstaunlich viele Menschen mit einem Lächeln im Gesicht herum. Sind achtzehn Grad warm?
Bestimmt, sagt die blonde Dame in Reykjavik, wenn wir ihr diese Frage stellen. Auf keinen Fall, antwortet der Beduine, der bei dieser Temperatur fröstelnd bibbert. Möglicherweise sind Sein oder Nichtsein manchmal auch eine Frage des Standpunkts ihrer Betrachtung.
WAHR ODER UNWAHR? ODER BEIDES?
Kann etwas sogar womöglich wahr und unwahr sein? Also gleichzeitig? Hier gönnen wir uns einen kurzen Ausflug in die Quantenphysik, in die Welt der allerkleinsten Teilchen. Gedankenexperimente wie beispielsweise „Schrödingers Katze“ helfen uns jedoch bei der Suche nach der einen Wahrheit auch nicht richtig weiter, im Gegenteil [4]. Wo Makrokosmos und Mikrokosmos aufeinandertreffen, da herrscht womöglich nur noch mehr Verwirrung. Denn die Katze im Experiment ist wissenschaftlich betrachtet sowohl tot als auch lebendig – zum selben Zeitpunkt.
Die gute Nachricht für alle Katzenfreundinnen und -freunde: Dies ist lediglich ein theoretischer Versuchsaufbau. Zumindest ist mir niemand bekannt, der eine Katze in eine Schachtel zusammen mit einem radioaktiven Teilchen und einer Portion Gift gesteckt hätte.
Was wir dennoch (auch ohne Quantenmechanik studiert zu haben) hieraus mitnehmen können: Die Wahrheit hängt vom Betrachter ab. Und: Der Beobachter beeinflusst das beobachtete System. Selbst auf Ebene der allerkleinsten Teilchen scheint eine „objektive Wahrheit“ also nicht zu existieren.
Genau das ist auch die Kernaussage im Konstruktivismus. Dieses Konzept der Erkenntnistheorie behauptet, „dass Wissen nicht das Ergebnis eines Abbildes im Sinn eines Entdeckens der objektiv vorliegenden Wirklichkeit ist, sondern das Ergebnis eines Erfindens der Wirklichkeit. Das menschliche Gehirn erzeugt kein fotografisches Abbild von Wirklichkeit, sondern es schafft mithilfe von Sinneswahrnehmungen ein eigenes Bild der Welt. Wahr ist, was wahr-genommen wird. Der Konstruktivismus verleugnet die Wirklichkeit selbst nicht. Er behauptet nur, dass die Aussagen über die Wirklichkeit dem eigenen Erleben, der eigenen Geschichte, der eigenen Entwicklung und den eigenen (beschränkten) physischen Möglichkeiten der Wahrnehmung entspringen.“ [5]
Der Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Soziologe, Philosoph und Autor Prof. Dr. Paul Watzlawick sagte in einem Interview zum Thema Wirklichkeit und Wahrheit: „Es ist eine Frage der Ansicht.“ [6] Weiterhin verweist Watzlawick dort auf das altbekannte Beispiel vom Wasserglas: halbvoll oder halbleer. Genau, alles eine Frage der Perspektive, auch der inneren Haltung. Ein weiteres Indiz, dass diese Wahrheit eine ganz schön subjektive Angelegenheit zu sein scheint.
MEHR FRIEDEN UND VERSTÄNDNIS
Wieso nun kann „weniger Wahrheit“ zu mehr innerem Frieden und mehr Verständnis in zwischenmenschliche Beziehungen führen?
Wenn man bereit ist anzuerkennen, dass die eigene Wahrheit eben wirklich nur die eigene Sicht ist, dann könnte sich dadurch eine grundsätzliche Offenheit einstellen. Dass der oder die Andere eben auch eine ganz eigene Wahrheit besitzt. Dass die eigene Wahrheit für den Anderen vielleicht ganz anders aussieht. Orange ist eben nicht immer orangefarben.
Und wenn man nun nicht mehr (so oft) auf der eigenen Wahrheit beharrt – ja, das kann total entspannend sein. Man muss nicht mehr darum kämpfen, dass man (als Einziger) recht hat.
Dass jemand diesen schrecklichen Krach da draußen vielleicht gar nicht als störend wahrnimmt? Dass jemand diese wunderschöne Musik als schlimme Tortur empfindet? Dass jemand möglicherweise keine Schokolade mag? (Okay, das kommt nun wirklich sehr, sehr selten vor.)
„Meine Wahrheit ist nicht deine. Und deine ist nicht meine.“ Wenn uns das gemeinsam klar ist, müssen wir uns weniger streiten, wer nun mehr von der einzig wirklichen Wahrheit besitzt. Dann können wir uns über die Schnittmengen und Unterschiede unserer Wahrheiten austauschen.
Und dann? Dann können vielleicht ganz seltsame Sachen wie Perspektivwechsel oder Toleranz passieren. Einfach mal ausprobieren!
Entscheidend dafür ist, dass man die (eigene) Wahrheit auch wirklich wahrnehmen will. Das, was wirklich (für einen selbst) ist. Mit allen Sinnen, also nicht (nur) mit dem Gehirn.
Der Arzt und Autor Ron Smothermon, dessen „Drehbuch für Meisterschaft im Leben“ ich allerwärmstens empfehlen kann, sagt dazu: “Nur wenn Sie Wahrheit wahrnehmen und ihr Raum geben zu sein, ist sie offensichtlich. Der Verstand ist nicht dafür ausgestattet, das zu tun, da er eine Richtig/Falsch-Maschine ist, die nur an Rechthaben und Überleben interessiert ist. Wenn Sie Ihrem Verstand das Zepter überlassen, wird er einen Zustand der Unwirklichkeit erschaffen, um recht zu haben.“
Viel Vergnügen mit all den vielen Wahrheiten da draußen!
[1] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=X59U4mUqWtw
[2] Verfasser unbekannt
[3] Siehe http://www.imdb.com/title/tt2543164
[4] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=bitYXYlmT2Y
[5] Quelle: Gabler Wirtschaftslexikon
[6] Siehe https://youtu.be/3dkrIN3Is1U